Ein letzter Gruss 2023
Torre Gaffer - 7a+/7bGedanken eines Vaters an seinen Sohn
Alleine stehe ich unter der Nordwestkante des Torre Graffer. Wie eine umgekehrte Treppe ziehen die Überhänge hinauf, als wären sie eine verkleinerte Version der Scoiattoli-Kante an der Westlichen Zinne. Eine Traumlinie, die mich schon jahrelang faszinierte und ganz intuitiv anzog. Doch jetzt fühlt sich etwas daran unnatürlich an, scheint wie ein Weg wider der Natur. Denn es ist normalerweise nicht vorgesehen, dass ein Vater in den Fußstapfen des Sohnes unterwegs ist...
Lange Zeit sah es nicht danach aus, dass die Berge auch dich in ihren Bann zögen und du, so wie ich selbst, leidenschaftlicher Bergsteiger werden würdest. Du hattest sehr viele unterschiedliche Interessen und Talente, wobei Sport für dich von jeher eine wichtige Rolle spielte. Skifahren, Mountainbiken und Sportklettern, einige Zeit sogar als Wettkampfsport. Aber auch dem Modellfliegen und dem Modellbau galt eine lange Zeit deine ganze Aufmerksamkeit. Nach deiner Matura warst du fest entschlossen, Ingenieur zu werden. Und so zog es dich nach Graz, wo du dich erfolgreich Prüfung für Prüfung voranarbeitetest. Wir Eltern waren umso mehr überrascht, als du uns nach eineinhalb Studienjahren ganz unvorhergesehen mitteiltest, dass du einen anderen Weg einschlagen und dein Studium abbrechen wolltest. Aber du warst dir deiner Sache sicher, und so kehrtest du nach Hause zurück.
Es dauerte eine Weile bis ich verstand, was der wahre Grund für deine Entscheidung war: Dir hatten die Berge zu sehr gefehlt! Deine Welt war hier zuhause, wo die Berge zum Greifen nah sind. Von nun an warst du jede freie Minute mit Freunden und auch immer wieder mit mir irgendwo im steilen Gelände unterwegs. In der Ausbildung zum Bergretter und zum Bergführeranwärter eignetest du dir ein fundiertes Knowhow an und ich war ein ums andere Mal beeindruckt, mit welcher Zielstrebigkeit und Gewissenhaftigkeit du dich dem Thema Berg widmetest.
Obwohl wir immer wieder intensive Gespräche und einen regen Gedankenaustausch zu den unterschiedlichen Bergthemen hatten und du dir wiederholt Rat von mir holtest, erfuhr ich Vieles von dem, was du in den Bergen gemacht hast, erst im Nachhinein. So zum Beispiel von deiner Free-Solo-Begehung der „Geierhochzeit“ in der Geierwand (6c/VIII-), was ein sehr ernsthaftes Vater-Sohn-Gespräch nach sich zog! Denn so sehr ich als Bergsteiger diese Leistung zu würdigen wusste und den Reiz einer Free-Solo-Begehung nachvollziehen konnte, so schwer war es als Vater für mich, damit umzugehen… Verbieten konnte und wollte ich es dir auch nicht.
Dein Tourenbuch der letzten drei Jahre ist übervoll. Von Sportklettereien über Eisfälle bis hin zu klassischen Wänden und schroffen Felsgraten war alles dabei. Dabei ging es dir stets um die Freude am Tun und nicht darum, dich in der Öffentlichkeit zu profilieren. Hatte dich einmal eine Idee gepackt, scheutest du weder Kosten noch Mühe. So bist du zum Beispiel nur für ein Wochenende in die Schweiz gefahren, um die Matterhorn-Nordwand zu klettern, oder du bewältigtest frühmorgens vor Arbeitsbeginn in 1¾ Stunden die 1.500 Höhenmeter von Mühlbach auf die Schwarze Wand und warst danach pünktlich um 8 Uhr an deinem Arbeitsplatz.
Außergewöhnlich stark warst du sowohl in Kondition, Ausdauer und Geschwindigkeit. Du besaßt das Gesamtpaket, das einen starken Allroundalpinisten ausmacht. Dies zeigtest du schließlich eindrucksvoll 2021, als du für die Ortler-Nordwand mit anschließender Skiabfahrt durch die Minnigerode-Rinne zurück bis zum Auto in Sulden insgesamt nur 3 Stunden und 59 Minuten brauchtest. Ja, du hättest das Zeug zu einem ganz Großen gehabt...!
Die Arbeit an „Deiner“ Route nimmt mich voll in Anspruch. Zu dem Zeitpunkt, als ich die Erstbegehung begann, ahnte ich noch nicht, dass sie ein letztes Geschenk an dich werden sollte… Einen Tag war mein Kletterpartner Kurt Astner mit dabei. Er eröffnete die vierte und zugleich Schlüsselseillänge (7b/IX-). Die restlichen Seillängen eröffnete ich solo. Es war schon Mitte Oktober und die Temperaturen NW-seitig ungemütlich. Mit dem Grigri sicherte ich mich selbst, arbeitete mich Meter für Meter nach oben, putzte den Fels, checkte die Kletterzüge und setzte Bohrhaken. Klettert man alleine, dann ist man ständig am Arbeiten und bleibt dauernd in Bewegung. So wird einem weniger kalt…
Öfters unterhielten wir uns über das Alleingehen am Berg. Dich faszinierte es, auf diese Weise unterwegs zu sein – dieses Gefühl, ganz bei sich zu sein und nur für sich selbst verantwortlich zu sein, einfach völlig frei. Oder wie du es selbst einmal ausgedrückt hast: „Eine Idee zu haben, zu warten, bis alle Faktoren zusammenpassen – Verhältnisse, Wetter, Fitness und mentale Stärke – und dann ‚zuzuschlagen‘, macht für mich den Reiz beim Solobergsteigen aus.“
Deine Einstellung war, dass man auf eine Free-Solo-Begehung nicht „hintrainieren“ konnte, sondern man solche Projekte überhaupt erst in Betracht ziehen sollte, wenn die bereits vorhandene körperliche und mentale Voraussetzung keinen Zweifel an der Bewältigung der Herausforderung zuließen. Eine andere Herangehensweise war deiner Meinung nach unverantwortlich.
Mit diesem Gefühl, zu hundert Prozent vorbereitet zu sein, hast du dann DEIN großes Free-Solo-Projekt im Rosengarten gestartet, und wieder wusste außer deinem Drohnenmann niemand davon.
Am 20. Juni 2022 klettertest du in einer Stunde und fünf Minuten die „Moulin Rouge“ an der Rotwand (385 m, bis 7b/IX-) free solo. Das war selbst für mich jenseits meiner Vorstellung. Zwei Wochen zuvor waren wir gemeinsam durch die Route gestiegen; ich als Seilzweiter und du beeindruckend souverän voran. Vor 20 Jahren hatte ich diese Tour mit Oswald Celva erstbegangen und es war mir eine große Freude und Ehre, sie mit dir am Seil zu wiederholen. Deine Free-Solo-Begehung lässt mich bis heute sprachlos, weshalb ich an dieser Stelle die Worte darüber dir überlasse:
„Für mich war das Gefühl, mit beiden Füßen den Boden zu verlassen, das schönste. In diesem Moment realisierte ich erst, dass jetzt die Verwirklichung meines Traumes zu Greifen nah war und der Gedanken daran, dass dies meine einzige Chance sein würde, verflog nach den ersten Metern ziemlich schnell. Ich fand bald einen ‚Flow‘ der mich nahezu ohne darüber nachzudenken, fast ein wenig automatisiert, höher und höher kommen ließ. Erst vor der 7b Schlüsselseillänge hielt ich kurz an und schüttelte zwei Minuten lang die Arme aus, um so ausgeruht wie möglich weiterklettern zu können. Sie gelang mir daraufhin ohne Probleme und ohne einen einzigen heiklen Moment. Mit einer Mischung aus gestärkter Motivation und Erleichterung stieg ich dann bis vor die 7a+ Seillänge weiter, wo ich mir abermals kurz die Zeit nahm, meine Arme auszuschütteln. Das kleine Dach, das es dort zu überwinden gilt, stellte für mich persönlich die 2. Schlüsselstelle dar. Hier wusste ich auch noch von meiner vorherigen Begehung ziemlich genau, wie die Stelle klettertechnisch gelöst werden muss. Genauso setzte ich es dann in die Tat um und die Stelle war überwunden. Ich fing an, ein wenig euphorisch zu werden, war mir aber sehr wohl bewusst, dass die Konzentration auf keinen Fall nachlassen durfte. So kletterte ich noch die letzten Meter bis zur Gipfelkante hoch und stieg mit einem unbeschreiblichen Gefühl aus der Route aus.“
(aus einem unveröffentlichten Bericht)
Aus bergsteigerischer Sicht kann man sagen, dass diese Aktion bis heute die zweitbeste Free-Solo-Durchsteigung in den Dolomiten war, nach Hansjörg Auers „Weg durch den Fisch“ an der Marmolada. Du hast gezeigt, was „jung und unbekümmert“ möglich macht… Dein knapper Tourenbucheintrag sagte am Ende alles: „Alles hat perfekt zusammengepasst. Unvergesslicher Tag.“
Schließlich erzähltest du mir von deiner Idee, die Magerstein-Südkante free solo zu klettern. Das Gestein in der Rieserferner-Gruppe ist sehr brüchig, die Route aber durchaus machbar. Deine Erfahrung und dein Können waren sicherlich mehr als ausreichend dafür und so traute ich dir als Bergsteiger dieses Projekt zu, wenngleich uns beiden der Verbleib der objektiven Gefahren bei einer solchen Aktion bewusst war und besonders mir als Vater ein besorgter Gedanke blieb…
Inzwischen ist meine Erstbegehung auf den Torre Graffer beendet: elf Seillängen zwischen 6a (VI+) und 7b (IX-), nur die letzten beiden leicht. Ich sitze im letzten Sonnenlicht auf dem Gipfel und denke an dich, mein Sohn. Vor meinem inneren Auge läuft ein Film ab, bunt und intensiv, in dem du im Zeitraffer vom kleinen Jungen zu einem erwachsenen Mann wirst, der das Leben geliebt und in vollen Zügen gelebt hat. Ich denke zurück an deine Leichtigkeit und deine unbändige Freude im und am Leben, und ich verspüre große Dankbarkeit für unseren gemeinsamen Weg, für jede gemeinsam verbrachte Stunde. Daher versuche ich auch, nicht mit dem Schicksal zu hadern. Während mein Blick in die Ferne gleitet und sich im Abendlicht zwischen den bizarren Felszacken verliert, spüre ich eine unendlich tiefe Verbundenheit mit dir und weiß, dass sie für immer bleibt.
So soll diese Erstbegehung in Gedenken an dich „Ein letzter Gruß“ sein.
Gerda Schwienbacher Jochen Hemmleb Christoph Hainz
(Jonas Hainz stürzte am 29.10.2022 bei der Free-Solo-Begehung der Magerstein-Südkante tödlich ab.)
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